Die Löwengeschichte 1.0, 2.0 und 3.0

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22. Oktober 2023

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Von Bernhard Trenkle

Ursprung und Variante 1.0

Die ursprüngliche kurze Löwengeschichte in der Länge einer halben Buchseite entdeckte ich, als ich nach einer passenden Geschichte für PatientInnen an der HNO-Uniklinik Heidelberg suchte. Damals arbeitete ich an der Stimm- und Sprachabteilung u. a. mit den Diagnosen psychogene Dysphonien. Sie betraf neben Profi-SängerInnen vor allem sehr verantwortungsvoll-perfektionistische LehrerInnen, deren Stimme oft nach wenigen Stunden Unterricht versagte. Sie kamen in die HNO-Klinik, weil sie auf eine medizinische Behandlung mit Lutschtabletten, Spritzen oder Wärmebestrahlungen setzten. Der Gang zur Logopädin war vielleicht gerade noch o. k. – aber „ich brauche doch keinen Psychologen, der mit mir ärztlich verordnet Entspannung und Therapie macht!“. Die Widerstände waren groß: „Meine Stimme hat ein Problem, aber doch nicht ich!“
In diesem Kontext suchte ich nach Geschichten mit der Botschaft „Ich lasse mich mal ein“. Die Löwengeschichte schien mir da sehr geeignet. Der Löwe erschrickt vor seinem eigenen Spiegelbild im Wasser und kann seinen Durst nicht stillen. Schließlich überwindet er sich, taucht den Kopf ins Wasser, der andere Löwe ist nicht mehr sichtbar, und er kann endlich entspannt trinken.
Viele meiner PatientInnen konnten über diese Geschichte plötzlich loslassen und haben sich selbst gewundert, wie tief entspannt sie waren. Diese Geschichte habe ich dann standardmäßig in mein Selbsthypnose-Training eingebaut. Dabei lernte ich mehr und mehr, die Standardgeschichte zu modifizieren – Stotterer bekamen eine etwas andere Version als StimmpatientInnen, PatientInnen mit chronischen Schmerzen eine andere Geschichte als diejenigen in der Reha nach einem Schlaganfall.

Löwe 2.0

Parallel unterrichtete ich dieses Selbsthypnose-Training in meinen Workshops. In fortgeschrittenen Workshops begann ich zum Ende der Curricula Klinische Hypnose MEG jeweils drei bis fünf TeilnehmerInnen nach individuellen Problemen und Zielen zu fragen. Das reichte von Zähneknirschen im Schlaf bis zu Problemen mit Nachbarn oder pubertierenden Kindern. Dann erzählte ich im Seminar eine Langversion der Löwengeschichte, die einerseits so etwas wie ein Repetitorium der Curriculumsinhalte war und andererseits diese drei bis fünf KollegInnen speziell adressierte. Ich wollte auch zeigen, wie man in Gruppen Einzelne im Rahmen einer Geschichte für alle individuell ansprechen kann.
Nach dieser Trance analysierte ich dann oft bis zu 90 Minuten lang, was alles in der Geschichte enthalten war, und erklärte, an welcher Stelle eine Altersregression mit Kindheitserinnerungen induziert wurde, wann und wo Katalepsie eintrat und warum so viele der Angesprochenen für große Teile eine Amnesie haben. Es war manchmal ein große Herausforderung, die sehr unterschiedlichen Probleme und Ziele irgendwo in der vorher festgelegten Geschichte unterzubringen und den betreffenden KollegInnen zu signalisieren: „Das ist der Teil für dich.“

Eine dieser Trancen in einem B7-Seminar in Heidelberg wurde aufgezeichnet und transkribiert. Dann habe ich diese lange Trance Schritt für Schritt analysiert. Das war die Grundlage für das Buch Die Löwen-Geschichte. Ursprünglich war es als zusammenfassendes Repetitorium für Inhalte aus den B-Seminaren gedacht. Als es fertig war, stellten wir fest, dass man es mit Ergänzungen auch als gute Einführung in die Hypnotherapie verwenden kann. Ich erweiterte das Buch in diesem Sinne und der Verlag warb eine zeitlang mit dem Spruch „Ein einführendes Repetitorium moderner Hypnotherapie“

Die Löwengeschichte 3.0

Oft war es wirklich schwierig, die so verschiedenen Therapieziele irgendwie in der Löwengeschichte zu adressieren. Bis ich dann eine Idee hatte, mit der es plötzlich ganz einfach ging: Der Löwe hat diese Mischung aus großem erwachsenen Löwen mit der ganzen Lebens- und Kampferfahrung, mit Umsicht, Vorsicht und Übersicht, und gleichzeitig dem verspielten neugierigen Unbekümmerten des ganz kleinen Löwen, der Schmetterlinge jagte. Und mit dieser Kombination macht er sich auf den Heimweg. Unterwegs sieht er ein Lagerfeuer brennen. Da hält er sich normal fern. Aber an diesem Tag ist er neugierig und vorsichtig zugleich. Er schleicht sich an und legt sich in sicherer Entfernung im Dunkeln hin und hört zu, was am Lagerfeuer gesprochen wird. Ja – und am Lagerfeuer sitzen die TeilnehmerInnen einer Fachtagung, die diese Nachtwanderung in die Wildnis als Tourismusprogramm gebucht haben. Die singen dort Lieder, erzählen Geschichten, sie fachsimpeln auch manchmal: Was macht ihr in China mit chronischen Schmerzen oder mit Zähneknirschen? Gibt es eigentlich neue Forschungsergebnisse zu dem und dem Problem? Und so konnte ich an diesem Lagerfeuer fast jede Technik, Geschichte oder psychoedukative Information einbauen.

Löwe 3.1: Salzwüste – Iran-Version

Leider gibt es davon keine Aufnahme. 2015 waren wir anlässlich eines Kongresses in Teheran auf einer touristischen Rundreise im Iran. Inmitten einer riesigen Wüste trafen wir auf eine Oase. Niemand weiß, warum es an dieser Stelle in Garmeh soviel Wasser gibt. Von dort fuhren wie in einer Vollmond-Nacht in die Wüste und bekamen das Essen am Lagerfeuer serviert. Unsere Gastgeber in der Oase hatten dazu Sufi-Live-Musik arrangiert. Die Musiker wollten gerade zu spielen beginnen, als jemand die Idee aufbrachte, ich solle meine Löwengeschichte erzählen, weil diese doch aus dem alten Persien stamme. Reizvolle Idee. Aber zuerst sagte ich nein, weil die Konsekutivübersetzung für die Iraner, die kein Deutsch und kein Englisch konnten, zu viel Zeit vom Konzert wegnehmen würde. Doch dann hatte ich eine Idee. Ich ging zu den Musikern und erklärte ihnen, dass ich eine alte persische Geschichte in neuer Form erzählen wollte. Dabei würde ein Löwe in der Ferne ein Lagerfeuer sehen und von dort leise Musik hören. Sobald dieses Stichwort komme, sollten sie leise mit der Musik beginnen und dann lauter werden, und ich würde die Geschichte weitererzählen und sie die Begleitmusik spielen. Dann kam der Löwe ans Lagerfeuer, und dort saßen Ärzte und Psychologen aus verschiedenen Kulturen, die sich Geschichten erzählten. Ich erzählte dazu wenige kurze Geschichten in der Löwengeschichte. Am Lagerfeuer saß auch ein bekannter, über 80-jähriger iranischer Dichter, der in Teheran wohl in brillanter Gedichtform öffentlich gegen das Mullah-Regime wetterte, den man aber wegen seines Alters und Ansehens unbehelligt ließ. Dieser Dichter begann plötzlich immer wieder laut etwas zu rufen. Ich war irritiert. Mein Übersetzer flüsterte mir schnell zu: Das muss dich nicht stören, er ist so begeistert von deinem Erzählen, dass er ab und zu sowas wie Bravo ruft. So kam die Löwengeschichte nach langer Zeit in neuer Form wieder zurück nach Persien.

Da ich fast allen KlientInnen Selbsthypnose mit der Löwengeschichte vermittle, stehen unterdessen auf therapie.tv mehrere Versionen, inklusive der 3.0 Varianten mit dem Lagerfeuer – allerdings ohne persische Live-Musik. Allerdings, seit es spotify und youtube gibt, spiele ich in den letzten Jahren zu meinen hypnotischen Trancen ab und zu auch parallel Musik. Sozusagen ein musiktherapeutisches Element. Auch dabei ist zum Glück einige Male die therapie.tv-Kamera mitgelaufen.